Pages

Categories

Suche



Statement setzen statt strategisch Wählen

Statement setzen statt strategisch Wählen

by
23. September 2017
Allgemein, Blogbeitrag von Oliver Bayer
3 Comments

UPDATE: Für die Verfechter taktischen Wählens mal nachgerechnet. Bei der Bundestagswahl 2017 gab es …
11 zusätzliche AfD-Mandate, zurückzuführen auf Erststimmen an Große Parteien (Ausgleichsmandate)*.
0 zusätzliche AfD-Mandate, zurückzuführen auf PIRATEN-Zweitstimmen, die nicht an die Großen Parteien gingen.
4 zusätzliche AfD-Mandate, zurückzuführen auf ALLE Zweitstimmen an Kleinparteien < 5%, die nicht an die Großen Parteien gingen, inkl. der Stimmen an die NPD und andere rechte Parteien. Also rein theoretisch.

*) siehe https://www.bundeswahlleiter.de/info/presse/mitteilungen/bundestagswahl-2017/32_17_vorlaeufiges_ergebnis.html
**) Die AfD erreichte 94 Sitze, davon sind 11 Ausgleichsmandate und 3 Überhangmandate. D.h. auf Grund der Zweitstimmen originär 80 Sitze.
Man müsste jetzt jedes Bundesland einzeln berechnen, um Überhangmandate etc. zu berücksichtigen. Wir vereinfachen das radikal, indem wir mal alle Überhang- und Ausgleichsmandate weglassen, nur Zweitstimmen betrachten und auch nur auf die Prozente schauen. Durch die Verteilmechanismen in den Bundesländern erhielt die AfD einen Sitz mehr und die CDU einen Sitz weniger, als in der folgenden Berechnung. D.h. die Rechnung ist trotz der Vereinfachung ziemlich genau.
Grundlage ist die gesetzliche Anzahl der Mitglieder des Bundestags von 598.
Die AfD hat 12,60% aller Zweitstimmen. Nimmt man die 5,0% Kleinparteien unter 5% raus, sind es 13,26% von 598 Sitzen, das ergibt 79,3 Sitze.
Würde man die 5,0% der Kleinparteien einer beliebigen anderen Partei im Bundestag zuschlagen (oder gäbe es die 5%-Hürde nicht), erhielte die AfD 75,3 Sitze.
Das sind 4 Sitze mehr. Allerdings hätten dafür ALLE Kleinparteiwählenden, also auch NPD-Wählende etc., die Etablierten wählen müssen.
Die PIRATEN-Wähler haben dadurch, dass sie nicht CDU oder eine andere Bundestagspartei gewählt haben, gemeinsam (rein theoretisch) für 0,3 AfD-Sitze mehr gesorgt, gerundet: Null.

Die, die aber ihre Erststimme der CDU, CSU, SPD und LINKEN und den Grünen (wenn auch nur in Berlin-Friedrichshain-Kreuzberg Korrektur: Die Überhangmandate von Linken und Grünen sind wohl eher Folge ‚zu vieler‘ Zweitstimmen in bestimmten Bundesländern) gegeben haben, haben alle zusammen für 11 zusätzliche Mandate für die AfD durch Ausgleichmandate gesorgt, denn alle diese Parteien erhielten Überhangmandate, die wiederum ausgeglichen werden mussten. FDP-Wählende sind raus.

Fazit: Fasst Euch an die eigene Nase!


 

Campact kurios: Wer gegen die AfD ist, soll der eingefahrenen Politik ein „Weiter so“-Zeichen geben, also ausschließlich Union, SPD, Linke, Grüne oder FDP wählen: https://blog.campact.de/2017/09/du-jetzt-noch-gegen-die-afd-tun-kannst/

Diese Wahlempfehlung für die Parteien, die uns ja erst zur Parteienverdrossenheit und zur AfD geführt haben, ist unlogisch und für eine aktivistische Plattform unmoralisch. Sie verkennt auch vollkommen, was eine Demokratie ausmacht. Es ist die Vielfalt und die Möglichkeit zur Veränderung auch ohne gewaltsame Revolution.

Nett, dass Campact die PIRATEN erwähnt: PIRATEN hätten wichtige Impulse z.B. im Datenschutz in die Politik gebracht (es war sicher mehr als das). Aber warum bitteschön, sind frische Impulse genau dann nicht mehr wichtig, wenn die Politik sie am dringendsten braucht? Braucht 2017 keine frischen Impulse?

Ihre Stärke bezieht die AfD aus Parteienverdrossenheit, Unzufriedenheit und einer politischen Depression. „Weiter so“ ist da das komplett falsche Signal und Protektionismus ist der falsche Weg: Denn erstens führt der Protektionismus (also auch das campact-Wählen) dazu, dass sich alle AfD-Wählenden als Ganzes fühlen und jetzt erst Recht zusammenstehen, egal ob die AfD überhaupt annähernd die Hoffnungen der Wählenden erfüllen kann. Zweitens verhindert der Protektionismus dringende Innovationen im Politikbetrieb. Drittens ist Protektionismus immer eine aussichtslose Verteidigungsstrategie. Das ist beim Diesel und beim Faustkeil nicht anders als in der Politik. Protektionismus ist niemals offensiv, niemals progressiv und niemals vorwärtsgewandt.

Wohin wollt Ihr denn? Wollt Ihr Euch echt vor die großen Parteien stellen, damit die weitermachen wie bisher? Politische Verantwortung im Dieselskandal runterspielen, Interessensvermengung schützen, bei Flüchtlingskatastrophen wegsehen, Spionageskandale ignorieren, soziale Schieflagen aussitzen?

Dann dürft Ihr Euch aber auch nachher nicht darüber aufregen. Nicht, wenn auf lange vernachlässigte Notstände und Politikfelder mit wirkungsloser Symbolpolitik reagiert wird (z.B. Mietpreisbremse). Nicht, wenn libertäre und soziale Errungenschaften einfach kassiert werden (z.B. Briefgeheimnis, VDS). Nicht, wenn mal wieder Minister ihre eigenen Interessen ins Ministerium mitbringen (z.B. Medienminister NRW).

Derzeit lässt sich die politische Öffentlichkeit von Märchen gängeln, die schreckliche Dystopien prophezeien: Fremde werden uns überschwemmen, der Terror uns töten, Freiheit wird für Verbrechen missbraucht. Der aktuelle Politikbetrieb dreht sich nur noch darum, diese angeblichen Dystopien zu verhindern und den Status quo, das „weiter so“ beizubehalten. Dabei sollen das aktuelle politische Parteiensystem und die politischen Prozesse um jeden Preis erhalten werden. Der Preis ist hoch: Der angeblichen Bedrohungslage werfen wir unsere individuelle Freiheit und all die gesellschaftlichen Errungenschaften zum Fraß vor, die wir zuvor über Jahrzehnte in langen Kämpfen erworben haben. Terrorismus verhindern wir dadurch nicht, wir machen ihn nur attraktiv, indem wir darauf reagieren und die Herausforderungen für die Terroristen sowie den Einsatz erhöhen.

Dieser fatale Protektionismus der großen Parteien hat dabei keinen Platz für eine Zukunft, die anders aber vielleicht besser ist, als die Gegenwart. Er ist von Angst geprägt. Das politische Wagnis ist ausgeschlossen. Unrealistisch, weil „politisch nicht durchsetzbar“. Kein Mut, keine Visionen, keine Utopie. Ohne das Vertrauen und die Hoffnung in eine bessere Zukunft (und nicht nur das Verhindern einer Dystopie), ohne das gespannte und kribbelnde Gefühl durch Politik eine bessere Welt, eine Utopie, schaffen zu können, bleibt uns nur noch beißender Zynismus und dahinter Resignation und Depression.

Wollt Ihr Depressionen oder eine bessere Welt? Was ist erstrebenswert, was davon ist unrealistisch, weil „politisch nicht durchsetzbar“ oder weil Ihr „strategisch gewählt“ habt?

Das kuriose ist: Genau das sind auch die Mittel der AfD: Angst, drohende Dystopien (Überfremdung, Terror, Wirmüssenzahlen) und Protektionismus. CDU, CSU, SPD, LINKE, Grüne und FDP mögen sich genau wie PIRATEN und PARTEI von Rechts abgrenzen, aber sie tragen zur dystopischen Stimmung bei.

Dass diese politische Stimmung über Wahlen entscheidet und nicht die politische Arbeit der Abgeordneten, weiß ich gut. Ich saß fünf Jahre für die Piraten im Landtag. Meine und unsere Arbeit dort wurde von Fachleuten hoch gelobt, mitbekommen hat es die Öffentlichkeit nicht. Dafür haben wir endlos an Debatten teilnehmen müssen, die nur die politische Stimmung trieben – vielleicht mit etwas Symbolpolitik garniert.

Außerdem habe ich erlebt, wie Kleinparteien wirken: Solange wir in den Umfragen gut dastanden, haben wir größere politische Erfolge erzielt. Als die Umfragen schlechter wurden, konnte man uns getrost ignorieren und ausgrenzen. Doch auch mit wenigen Stimmen hat man Gewicht und mit jeder weiteren Stimme etwas mehr.

Jede Stimme für eine Partei ist ein politisches Statement. Das Statement kann „weiter so“ lauten oder „fuck you all, brennt alles nieder und tötet auch die Kinder, mir egal“ oder aber „habt Mut zur Utopie“. Das Statement ist entscheidend und wirkt. Ob die AfD mit ihrer Anzahl an Stimmen nun X oder Y Abgeordnete in den Bundestag bekommt, ist dagegen sowas von scheißegal. Wenn sie wirklich einziehen, dann sollen sie auch ihre letzten Querulanten und potentiellen Abweichler der Listen mitziehen. Das wird die Fraktion der AfD durch interne Machtkämpfe eher schwächen als stärken. Es ist gottverdammt zu wichtig, was ihr wählt! Euer Statement ist wichtig! Eure Stimme für eine vermeintlich strategische Wahl zu verschenken, ist eine ganz ganz schlechte Empfehlung.

Für uns Piraten geht es nicht darum, eine gute Verwaltung zu wählen, die bloß nichts verkehrt macht.

Exkurs: Politik braucht Utopien!

Piraten wollen die politischen und gesellschaftlichen Errungenschaften erhalten, sie wollen aber keinen Protektionismus. Piraten haben keine Angst vor Veränderungen, keine Angst vor Neuem, keine Angst vor Experimenten, keine Angst vor dem politischen Scheitern, weil Ideen noch nicht reif oder noch nicht ausgereift sind. Das ist kein leeres Wahlversprechen, wir haben es mehrfach bewiesen. Jeder Impuls ist wichtig, der erste Versuch ist die Grundlage für den zweiten. Die Zukunft wartet nicht. Die Digitale Revolution wartet nicht. Wir müssen und können politisch gestalten, wie sich die Welt entwickelt. Wir sind selbst dafür verantwortlich ob alle Menschen oder nur einige Konzerne vom technischem Fortschritt profitieren.

„Das ist politisch nicht durchsetzbar“ ist kein Grund. „Ihr kommt doch eh nicht in den Bundestag“ ist auch kein Grund. Beides lässt sich ändern. Durch Deine Stimme können auch das Bedingungslosen Grundeinkommen oder der Fahrscheinfreie Nahverkehr Wirklichkeit werden.

Durch die 5%-Klausel zusammen mit Wahlumfragen werden Aussagen wie „ihr kommt doch eh nicht rein“ schnell zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Das ärgert uns, denn selbstverständlich ist es leicht, reinzukommen, wenn alle einfach nur der Meinung sind, man würde es schaffen. Doch auch unter 5% gibt es neben dem Statement und dem politischen Wirken handfeste formale Auswirkungen. 0,5% reichen bereits für die Parteienfinanzierung und die ist auch für PIRATEN wichtig. Mit Parteienfinanzierung können wir besser arbeiten, Räume anmieten, zählen unsere eigenen Spenden doppelt.

Für Protestwählende: Überlegt es Euch gut, ob Ihr wirklich eine zerstörerische Protestpartei wählen wollt, die den Parlamentarismus gar nicht erneuern will. Die das Parlament instrumentalisiert und nur für die eigenen Zwecke missbraucht … oder ob Ihr (z.B. mit den Piraten) eine Partei wählen wollt, die tatsächlich positive Veränderungen und mehr Offenheit statt bloß Selbstschutz erreichen will und dies in den Landtagen bereits gezeigt hat.

Ein Aufbau von Hürden und ein Abbau von Beteiligung – auch im Parlament – trifft immer die Demokratie, aber selten diejenigen, die nur stören wollen; das schaffen die nämlich auch so – während funktionierende demokratische Prozesse im Zweifel nur sehr schwer wieder herzurichten sind.

Exkurs: Parlament braucht fortschrittliche Debattenkultur

Wenn Ihr also die FDP wählen wollt, weil der Kevin Christian [sorry, der ‚Witz‘ war unnötig] so süß ist, macht es. Wenn Ihr mit der Politik der vier Bundestagsparteien zufrieden wart, dann wählt die halt, aber: Strategisch große Parteien gegen die AfD wählen ist Bullshit!

 

Nachtrag: Ach so, weil Wahlkampf ist, will ich eine der bei den Wählenden unbeliebtesten politischen Traditionen der Systemerhaltung wegen pflegen und mal die anderen Parteien bashen. Ich darf das ja, ich bin ja keine Aktionsplattform, sondern parteiisch.

Warum Ihr die großen Parteien nicht wählen könnt:

  • CDU/CSU/SPD: Informiert Euch über die Spitzenkandidaten. Das sollte reichen.
  • GRÜNE: Weil sie es nicht schaffen, konsequent zu sein. Immer wenn sie an der Macht sind, ignorieren sie ihre Wahlversprechen. Sie haben bspw. in ihren NRW-Regierungsjahren die Flughafenfragen ausgesessen, Datteln 4 genehmigt, die Braunkohle nicht gestoppt und nicht einmal ein Gutachten zu Folgekosten der Braunkohle hinbekommen. Anträge der Piraten wurden mit Verweis auf den Koalitionspartner weggebügelt. Sie haben sich so sehr an die SPD gehängt, dass ich Mitleid mit der Grünen Basis hatte. Und das machen die Grünen immer wieder und wieder falsch. Auch im Bund (von HARTZ IV bis Kosovo).
  • LINKE: Nicht nur in Ost und West, sondern leider in viele verschiedene Gruppen gespalten, die gegeneinander arbeiten. Ich persönlich habe den extrem ausgeprägten Dogmatismus und das Absolutistische vieler dieser Gruppen leider nie so richtig verstanden, weil ich meine, dass linke Politik eigentlich extrem offen und auch experimentierfreudig sein sollte.
  • FDP: Die 2017er-Wahlkampagnen der FDP sind das Beste, was diese Republik je gesehen hat. Aber es sind nur Kampagnen … und Christian Lindner kann nicht viel mehr als gut aussehen und fließend Reden halten. Ich kenne ihn ja. Die FDP tut in den Parlamenten nicht das Gegenteil ihrer Wahlversprechen, so wie die Grünen. Nein, die FDP erfüllt ihr Klischee ganz gut. Das heißt aber auch, dass sie immer mit den Mächtigen und mit den amtierenden Unternehmen (und Lobbyisten) tanzt. So innovativ, wie sie tut, ist die FDP damit nicht. Mit der FDP wirst Du eines sicher nicht erhalten: Etwas Neues.

PIRATEN könnt Ihr wählen, notfalls auch aus Protest oder um anderes zu verhindern.


3 Antworten

  1. Carola

    24. September 2017, 17:04:30

    Lieber Herr Bayer, ich unterschreibe alles, was Sie so wortreich erklärt haben!! Kurz gesagt: Wenn keiner kleine Parteien mit neuen Ideen wählt, weil alle glauben, die kommen doch eh nicht rein, dann kommen sie doch eh nicht rein, leider. Ich sag‘ nur, Angstwahl.
    Leute, seid mutig, die Welt verändert sich, ob Ihr wollte oder nicht, da könnt Ihr noch so lange auf der Bremse stehen und „Mutti“ u.Ä. wählen, die Euch sagt, ‚bei uns ist es doch schön, und ich sorge dafür, daß das so bleibt‘! (Jeder von uns weiß eigentlich, daß das Bullshit ist und es viele Dinge gibt, die nicht so gut laufen und die nicht so bleiben können!) Frage ist nur, warten wir die Veränderungen ab oder gestalten wir sie mit! Also ich bin da schwer für Mitgestalten!

       
  2. Andreas Schramm

    23. September 2017, 06:56:52

    Newsletter bekommen, gelesen und abbestellt.

       

Kommentare sind geschlossen.